Der Schiffsarzt

Nelson und seine Navy – Chirurgie in der Royal Navy

Von Tony Harrison, Surgeon., Historical Maritime Society.
Mit freundlicher Genehmigung von www.hms.org.uk.


Während dieser Zeit wurde die Chirurgie in der Navy, wie in der Medizin allgemein, nicht als Wissenschaft angesehen und Chirurgen genossen trotz ihrer anerkanntermaßen guten technischen Fähigkeiten ein deutlich niedrigeres Ansehen als (akademisch ausgebildete) Ärzte. Beträchtliche Zeit musste noch vergehen bis der Chirurg Zugang zur nüchternen Welt der Ärzte bekam. Bis dahin hatte der Chirurg keine Möglichkeit seine Theorien durch praktische Nachweise zu untermauern. Neben den fehlenden Übungsmöglichkeiten sorgten auch die noch fehlende Anästhesie und das mangelnde Wissen über infektiöse Zusammenhänge dafür, dass die Chirurgie ein sehr gefährliches Handwerk darstellte. Allerdings verbesserten sich die generellen Bedingungen der Marinechirurgie während des späten 18. Jahrhunderts bedeutend. Viele der jungen Männer kamen von nördlich der Grenze, ausgestattet mit Abschlüssen der neu gegründeten Medizinfakultäten der schottischen Universitäten von Aberdeen, Glasgow und Edinburgh. Lind, Trotter, Robertson und ihre Zeitgenossen brachten nicht nur die medizinische Versorgung der Navy auf ein höheres Niveau, sie waren auch leuchtende Vorbilder in der Geschichte der ganzen Medizin.

Die Aufgabe des Chirurgen auf dem Schiff war die einer schwimmenden Hausarztpraxis. Er war für alles Medizinische verantwortlich, von der Geburt von Kindern bis zur Zahnheilkunde. 95% seiner Zeit verbrachte er damit die üblichen Wehwehchen und Infektionen zu behandeln, die das Enge zusammenleben jeder Gruppe von Männern mit sich brachte, die lange Monate auf engstem Raum zusammenlebten. Das Thema dieses Artikels sind allerdings die operativen Fähigkeiten des Chirurgen, die normalerweise während und direkt nach der Schlacht benötigt wurden. Betrachtet man die Situation, unter der ein Marinechirurg operieren musste, sowohl an Land wie auch auf See, dann stellt man fest, dass seine Fähigkeiten als Operateur unübertroffen waren. Diese Fähigkeiten, das anatomische Wissen und die hohe Arbeitsgeschwindigkeit waren wichtig, wenn der Patient trotz der enormen physischen und psychischen Belastung überleben sollte. Postoperative Infektionen wurden als unvermeidbar angesehen und selbst bei den erfolgreichsten Operationen wurde Wundvereiterung als normal akzeptiert. Diese Wundinfektionen wurden in den zahlreichen Berichten, die ein Chirurg abfassen und zur Prüfung seiner Arbeit an das „Sick and Hurt Board“ übergeben musste, allgemein als „Entzündungen“ bezeichnet. Jede Behandlung oder Operation musste bis ins kleinste Detail, das Ergebnis eingeschlossen, aufgezeichnet werden. Konnte man dem Chirurgen mangelnde medizinische Kenntnisse oder Fähigkeiten nachweisen, so konnte seine Bezahlung verweigert werden. Die beiden bei Chirurgen am meisten gefürchteten Entzündungen waren der Wundbrand und besonders Tetanus (Wundstarrkrampf). Brandiges Gewebe wurde üblicherweise herausgeschnitten, Tetanus und seine weitere Entwicklung zur Kieferklemme (Trismus) stellten aber ein anderes Problem dar. Es wurde üblicherweise angenommen, dass die Kieferklemme bei warmem Klima häufiger auftrat. Die Behandlung der Kieferklemme variierte, ein Matrose der „Montague“ erholte sich innerhalb von neun Tagen, nachdem er zweimal täglich für eine halbe Stunde ein Bad nehmen musste zusammen mit einer Dosis von 3-5 Gramm Opium täglich, oral in geteilter Dosis einzunehmen.
Ein Matrose der „Magnificent“ entwickelte Trismus nachdem er eine großflächige Wundverletzung erlitt, die stark eiterte. Er konnte nach drei Tagen seinen Mund gut einen Zentimeter öffnen, nachdem der Chirurg ein Pflaster verordnete das 340 Gramm Opium enthielt und auf den Kiefer aufgeklebt wurde. Zusätzlich wurde er mit hohen Dosen von Chinarinde behandelt (später extrahierte man daraus den Wirkstoff Chinin), zusammen mit 28 Gramm Salpeter und 20 Tropfen einer schweißtreibenden Thebaintinktur gemischt mit 30 Tropfen antimonhaltigem Wein!

Die bei weitem größte Ursache für Tod und Verstümmelung die bei Gefechten zwischen Schiffen der damaligen Zeit auftrat, waren fliegende Splitter. Marinechirurgen fanden heraus, dass Auseinandersetzungen auf engem Raum weniger Verluste hervorriefen als Fernkämpfe. Im Nahkampf war die Geschwindigkeit der Kanonenkugeln so hoch, dass sie beim Einschlag auf den Schiffsrumpf glatte Löcher verursachten, was zu weniger Splittern führte. Aber eine langsame Kugel, die über große Distanz aufschlug, riss gezackte Einschlaglöcher in die Bordwand, deren zahlreiche Splitter mehr Männer töteten als die Kugel selbst. Ein kurioses Phänomen wurde von den Marinechirurgen der damaligen Zeit als „Kugelwind“ bezeichnet. Diese Verletzung trat auf, wenn eine Kanonkugel auf ihrer Flugbahn nahe an einem Körperteil vorbei flog. Man nahm an, dass die Wirkung am verheerendsten war, wenn die Kugel nahe am Bauch passierte, was keine offensichtlichen Verletzungen hinterließ, aber oft sofortigen Tod verursachte. Erstaunlicherweise wurde auch festgehalten, dass der „Kugelwind“ niemals tödlich war, wenn die Kugel nahe am Kopf vorbeiflog.

Verbrennungen zählten ebenfalls zu den üblichen Verletzungen auf dem Kanonendeck. Behandelt wurden sie mit einer Vielzahl von Applikationen auf die betroffene Stelle unter anderem Leinsamenöl, Kalkwasser, Bleiweiß, Olivenöl und Essigkompressen. Umstrittener war das Auftragen von Blei auf den verletzten Bereich, mit dem Hinweis der sparsamen Verwendung, um die Gefahr einer Bleivergiftung durch Aufnahme über die verletzte Hautpartie zu verringern. Erstaunlicherweise wurde die mögliche Verwendung von Salzlösung, obwohl man von Salzwasser umgeben war, von den damaligen Chirurgen nicht entdeckt. Der Zusammenhang zwischen Verbrennungen und Schock war ebenso bekannt wie die fiebrige Reaktion die Wunden dieser Art auf Grund der unvermeidbaren Infektionen mit sich brachten. Die allgemeine Behandlung dafür waren Opiate, oral in großen Dosen einzunehmen.

Im Allgemeinen hielt man Verletzungen der Körperhöhlen für so gefährlich, den Patienten als jenseits jeder Hoffnung zu bezeichnen. Folglich wurden offene Verletzungen der Bauchhöhle und des Brustkorbes in der Navy als tödlich akzeptiert. Umfangreiche Aderlässe waren das einzige Mittel um den Blutfluss an der Wunde zu reduzieren. Die Wunden klassifizierte man als Schusswunden, Schnittwunden und Stichwunden. Man behandelte sie in drei Schritten, die Erste Hilfe, indem man die Wunde reinigte, Fremdkörper entfernte und die Blutung stillte. Danach folgte die unvermeidliche Infektion und Vereiterung der Wunde, die hoffentlich den freien Abfluss des „löblichen Eiters“ ermöglichte, die, so hoffte man, die weitere Entfernung möglicher zurückgebliebener Fremdkörper erleichterte. Der letzte Schritt war, wenn der Patient bis hierhin überlebt hatte, der Heilungsprozess, meistens ein langer Prozess der Granulation des Wundgewebes wenn sich die Infektion zurückbildete.

Da Durchfall und seine Komplikationen beinahe Seuchenhaft für das Leben der Seemänner war, waren Marinechirurgen an den Umgang mit Dingen gewöhnt, wie Verstopfung der Harnröhre und chirurgische Maßnahmen um diesen Zustand zu behandeln, einschließlich der Blasenpunktion durch das Perineum(Damm) oder manchmal durch das Rektum.
Die meisten Marinechirurgen hatten große Erfahrung in der Behandlung von Frakturen, besonders der Extremitäten. Viele waren auch versiert im Umgang mit dem Knochenbohrer und der Anhebung von Depressionsfrakturen (eingedrückte Schädeldecke) des Schädels, eines häufigen Verletzungsmuster in der Navy dieser Zeit.

Die am häufigsten ausgeführte Operation war natürlich die Amputation der Gliedmaßen. Dies war vermutlich die Paradedisziplin der damaligen Marinechirurgen. Bedenkt man, dass diese Operationen ohne Anästhesie ausgeführt wurden, dass postoperative Infektionen als unvermeidbar angesehen wurden, dann kann man die erzielten Erfolge nur als beachtenswert nach heutigen Maßstäben ansehen. Die Amputation war damals wie heute ein Prozess der Kontrolle der Arterien, des Ablösens der Muskelverbindung vom Knochen, bevor man den Muskel zurückzog um den Knochen freizulegen und zu durchtrennen. Anschließend wurde das Muskelgewebe entfernt, die verletzten Arterien und andere Blutgefäße lokalisiert und diese Abgebunden. Der Unterschied zu heute war die schiere Geschwindigkeit, mit der diese Operationen durchgeführt wurden. Ein fähiger Chirurg der damaligen Zeit brauchte dafür weniger als zwei Minuten. Im Bewusstsein ihrer Fähigkeiten und ohne diese in Frage zu stellen, erkannten sie, dass je schneller eine Operation durchgeführt wurde, desto größer waren die Chancen des Patienten auf vollständige Heilung. Nachdem dieser Teil der Operation durchgeführt war, wurden die Patienten an den Helfer des Chirurgen weitergegeben, der den Stumpf versorgte. Diesen vernähte man entweder sofort, oder man ließ ihn ein paar Tage offen um das Entweichen von Gangrängas zu erleichtern, was von der Meinung des Chirurgen abhängig war, welche Methode der vollständigen Wiederherstellung des Patienten zuträglicher war. Die abgebundenen Arterien ließ man für gewöhnlich aus dem Stumpf herausragen, von wo sie im Laufe der Zeit abfielen.

Eine weitere bemerkenswerte Operation stellte die interscapular-thorakale Amputation dar, die die totale Entfernung des Armes, des Schulterblattes und des Schlüsselbeins umfasste. Sie wurde 1808 erstmalig durch den Chirurgen Ralph Cuming im Marinekrankenhaus von Antigua durchgeführt. Ein einundzwanzigjähriger Matrose war von einer Kanonenkugel getroffen worden. Cuming ordnete alle Überlegungen der Geschwindigkeit unter, um Schmerzen und Schock zu minimieren. Ohne einen Platz für seine Schlauchbinden und ohne Zangen musste er die großen Blutgefäße zwischen Daumen und Zeigefinger halten, während sein Assistent Seidenbinden darum band. Cuming fixierte die Wundränder mit Klebestreifen und trug einen Breiumschlag auf, den er ebenfalls mit einem Klebepflaster befestigte. Der Patient erholte sich vollständig und wurde nach seiner Heimkehr Medizinstudenten in Bath vorgeführt.

Der Erfolg der Royal Navy zu dieser Zeit und ihre absolute Herrschaft über die Weltmeere war zu einem nicht unwesentlichen Teil der Fähigkeit ihrer medizinischen Abteilung zu verdanken, ihren Matrosen die bestmögliche medizinische Betreuung zukommen zu lassen. Wir sind in der glücklichen Lage immer noch Zugang zu vielen Protokollen und Berichten von damaligen Chirurgen zu haben.

Diese ursprünglichen Dokumente erlauben uns aus erster Hand einen Blick in die Vergangenheit, als auch das Verständnis des Kalibers dieser Männer. Mit Sicherheit soweit es ihre professionellen Fähigkeiten betrifft, aber auch ihre besondere Humanität erscheint uns besonders bemerkenswert und ihre Sorge um ihre Patienten, die sich sowohl auf ihre eigenen Männer, als auch auf ehemalige Feinde bezog. Die besoffenen Schlächter der Mythen existierten sicherlich in der Navy um 1750, aber an der Wende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Chirurgen der Royal Navy den Respekt ihrer Mannschaften und die Dankbarkeit ihres Landes verdient.

Übersetzung durch Philipp Hoppe.