74-Kanonen-Schiff*

engl.: 74 Gun Ship, frz.: Vaisseau de 74 canons)


Mehr als ein halbes Jahrhundert lang bildeten die 74-Kanonen-Linienschiffe das Rückgrat der großen Flotten. Diese Zweidecker waren ein guter Kompromiß aus Größe und Schlagkraft und besaßen im Vergleich zu Dreideckern Schiffe mit 90 Kanonen und mehr) oder vielen kleineren Zweideckern (50- oder 44-Kanonen-Schiffe) weit bessere Segeleigenschaften. Nachfolgend wird vor allem die Entwicklung der britischen 74er betrachtet, jedoch muß betont werden, daß regelmäßig entscheidende Entwicklungen von französischer Seite ausgingen und die Briten sich genötigt sahen, nachzuziehen.

74er um 1780

Auch der Impuls zur Entwicklung der britischen 74-Kanonen-Schiffe ging von Frankreich aus. Dort entwickelte man in den 30er Jahren diesen Typ von etwa 170 Fuß Länge und mit einer 36 Pfünder Hauptbatterie. Die gleichzeitig gebauten britischen 70-Kanonen-Schiffe waren mit nur 150 ft bedeutend kleiner und führten nur 24- Pfünder in der Unterbatterie. Die Überalterung und der Konservatismus der Verwaltungsorgane und der Surveyors behinderten die Entwicklung derart, daß praktisch erst nach dem Aussterben der älteren Genaration eine adäquate Antwort auf die französischen Schiffe entwickelt werden konnte, als Thomas Slade im Jahre 1755 Surveyor wurde. Er entwarf zunächst einige 74er mit 165 und 166 Ft Länge, bevor mit der BELLONA, DRAGON SUPERB-Klasse von 1757 168 ft Standard wurden. Die eigentliche "Bellona-Klasse" bestand nur aus den vorganannten drei Schiffen, bis Ende der 1780er Jahre entstanden in 5 weiteren "Klassen" (davon EGMONT 1768 ein Einzelschiff) insgesamt 42 Schiffe nach meist nur geringfügig modifizierten Linien der BELLONA und ihrer Schwestern. Die 8 zwischen 1776 und 1786 gebauten Schiffe der CULLODEN- Klasse waren um zwei Fuß verlängert. Die Segeleigenschaften der Bellona wurden als sehr gut beurteilt.
Diese große Gruppe von Schiffen wurde als COMMON CLASS bekannt, um sie etwa von den großen, wiederum französisch inspirierten, aber weniger zahlreichen Schiffen LARGE CLASS zu unterscheiden. Bereits Ende der 1740er bauten die Franzosen vergrößerte 74er mit 24 - Pfündern in der oberen Batterie, die 1747 gekaperte INVINCIBLE veranlaßte die Briten zum Bau der großen VALIANT und TRIUMPH, aber zunächst kam es zu keiner Fortsetzung solcher Bauten. Erst seit den 1790ern baute man aufgrund der Erfolgen französischer großer Zweidecker während des Unabhängigkeitskrieges verstärkt auch wieder große 74er, zusätzlich wurden französische Beuteschiffe übernommen. Die LARGE CLASS 74er besaßen allgemein gute Segeleigenschaften und galten als schnell, weshalb man sie geglegentlich zu Geschwadern für besondere Aufgaben zusammenfaßte. Es zeigte sich aber, daß sie in der Schlacht keine gegenüber der COMMON CLASS herausragende Leistung erbrachten, und da sie um ein Viertel teurer waren als die COMMON CLASS , baute man schließlich wieder verstärkt kleinere 74er, ab 1810 auch die als "40 Thieves" (die "40" bezieht sich auf die gebaute Anzahl) berüchtigte SURVEYOR'S CLASS. Grundsätzlich ein eher durchschnittlicher Entwurf, verdankten die Schiffe ihren üblen Ruf wohl vor allem dem Umstand, daß sie zum großen Teil auf Privatwerften gebaut wurden, die keine ausreichende Erfahrung mit großen Schiffen hatten. Ihre Segelqualitäten waren wohl nicht regelrecht schlecht, vor allem die Mängel der Bauausführung ruinierten den Ruf dieser zahlenmäßig großen Klasse. Zur negativen Bewertung trug vermutlich bei, daß die alten 74er der Bellona-Klasse als besonders gelungen galten und daß andere neuere Zweidecker, die großen 74er und 80er französicher oder britischer Herkunft, aufgrund größerer Länge sicherlich besser segelten als die Schiffe der SURVEYOR'S CLASS. Der Vergleich mit den größeren Zweideckern ist aber sicherlich etwas unfair, denn deren gute Segeleigenschaften wurden mit übermäßigen Baukosten erkauft.
Die "Surveyors Class", "40 Thieves", bzw "Vengeur Class" war die letzte große Gruppe klassischer 74 Kanonen - Linienschiffe. Nach 1814 wurde keines mehr auf Kiel gelegt, jedoch lief der letzte der "Diebe" erst 1822 vom Stapel. Zu dieser Zeit war man bereits aufgrund neuer Bautechnologien (jene Seppings') dazu übergegangen, Zweidecker von 80 bis 90 Kanonen zu bauen; letztere waren über 200 Fuß lang. Die letzten großen Zweidecker liefen in den 1840er Jahren vom Stapel und wurden ab 1855 mit Schraubenantrieben nachgerüstet.

Bestände von 74 - Kanonen - Schiffen in der Royal Navy:


Anzahl COMMON CLASS 74er (Gesamtzahlen sämtlicher vorhandenen Schiffe) :

1793 - 58
1805 - 43
1814 - 61

Anzahl LARGE CLASS 74er (Gesamtzahlen)

1799 - 20
1805 - 24
1814 - 30


Abmessungen:

COMMON CLASS: (BELLONA 1768) L: 168' - B: 46' 9 ''- Tons: 1615
MIDDLING CLASS: (SPENCER 1795) L: 180' - B: 49'-Tons: 1917
LARGE CLASS: (AJAX 1798) L: 182' - B: 49'3'' - Tons: 1964
SURVEYORS CLASS ( ARMADA 1810): L: 176' -B 47' 6" Tons: 1741


Bewaffnungen:

COMMON CLASS (168') BELLONA 1761:
28*32Ib - 28*18lb - 18*9lb Später Bewaffungsändernung/teilw. Ersetzung der 9pfünder durch Carronaden von 32, 18 und 12 Ib.
1812 keine 9pfünder mehr vorhanden, stattdessen 8*12Ib, 10*32IbCarr, 2*18Ib Carr, 2*12Ib Carr. auf den Aufbauten.

LARGE CLASS:
28*32pdr - 30*24pdr - 12*9pdr - 4*9pdr

SURVEYOR'S CLASS 1810:
28*32Ib - 28* 18Ib; Achterdeck 4*12Ib und 10*32Ib Carr. Back 2*12Ib und 2*32Ib Carr.


Literatur:

Lavery, Brian: The 74 Gun Ship Bellona. Conway Maritime Press 2003.
Lavery, Brian: The Ship of the Line, Conway Maritime Press, Vol I 1983, Vol II 1984.